Die Gruppenspiele der deutschen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft verliefen bislang maximal durchwachsen und zuweilen gar besorgniserregend. Besonders die deutliche Niederlage gegen Schweden legte die eklatanten Schwächen in der Defensive schonungslos offen. Inmitten der Kritik am riskanten Ansatz von Christian Wück und an den offensichtlichen Unzulänglichkeiten einzelner Spielerinnen rückte jedoch auch eine Akteurin in den Fokus, die bis dato eigentlich keine Rolle spielte, aber nun Abhilfe schaffen könnte: Kathrin Hendrich.
In einem bis auf die Anfangsphase schwachen deutschen Auftritt, der nicht nur den Gruppensieg kosten sollte, sondern auch große Zweifel am Defensivkonzept des Bundestrainers und der Zusammenstellung der Abwehr aufwarf, war ausgerechnet Hendrich als Einwechselspielerin einer der wenigen Lichtblicke. Mit 33 Jahren ist sie die älteste und erfahrenste Feldspielerin im Kader – und genau das könnte aktuell ein entscheidender Vorteil sein.
Vor allem in der ersten Halbzeit wirkte die deutsche Defensive alles andere als sattelfest. Rebecca Knaak, die als Innenverteidigerin begann, agierte in mehreren Situationen unglücklich, ihre falsche Positionierung vor dem zwischenzeitlichen Ausgleich der Schwedinnen offenbarte die komplette linke Abwehrseite. Doch nicht nur da: Im Duell mit der schnellen Stina Blackstenius wirkte die Innenverteidigerin von Manchester City aufgrund ihrer Tempodefizite schlichtweg über weite Strecken überfordert. Zur Pause reagierte Bundestrainer Christian Wück und wechselte Hendrich ein.
Der Spielerinnentausch ging mit einer Systemumstellung auf eine Dreierkette einher. Hendrich übernahm die rechte Position in der neuen Formation, gewann 89 Prozent ihrer Zweikämpfe und brachte 92 Prozent ihrer Pässe an die Frau. Ihre Erfahrung aus 85 Länderspielen wurde dabei sofort ersichtlich. Mit Hendrichs Einwechslung kehrte wieder Ruhe und Struktur in die Defensivzentrale der DFB-Frauen – wenngleich auch sie nicht völlig fehlerfrei blieb.
„Immens viel Erfahrung“: Warum auch Chicago auf Hendrich setzt
Diese Ruhe am Ball erarbeitete sich Hendrich über ihre lange, erfolgreiche Karriere – auch aufs Vereinsebene. Von 2020 bis 2025 spielte sie beim VfL Wolfsburg, wurde 2022 Deutsche Meisterin und holte mit den Wölfinnen insgesamt viermal den DFB-Pokal. Nach der EM wird Hendrich in die USA wechseln. Seit Juni ist bekannt, dass die Nationalspielerin ihre Karriere bei den Chicago Stars fortsetzen wird. Dort freut man sich auf eine erprobte Führungsspielerin. Geschäftsführer Richard Feuz adelte Hendrich als Defensivakteurin mit „immens viel Erfahrung“. Sie habe ihr “großes Defensivtalent sowohl in der Bundesliga als auch auf internationaler Bühne bewiesen“.
Trotz dessen reiste Hendrich bei ihrer dritten Europameisterschaft zunächst nur in der Rolle der Ergänzungsspielerin an. Hintergrund: Im Februar hatte sich Hendrich einen Muskelfaserriss zugezogen, der sie bis kurz vor Saisonende außer Gefecht setzte. Die EM-Teilnehme selbst war zeitweise ungewiss.
Verletzungsfrei gehörte Hendrich, die auch die belgische Staatsbürgerschaft besitzt, seit Jahren zum festen Stamm der Nationalmannschaft, mit der sie Gold (2016) und Bronze (2024) bei Olympischen Spiele holte und vor drei Jahren in England bei der Europameisterschaft nur den Gastgeberinnen im Finale von Wembley dramatisch unterlag
Hendrich passt in jedes System
Doch die Ex-Münchnerin kann nicht nur mit dieser großen Turnier-Erfahrung punkten. Neben ihren Qualitäten im Zweikampf spricht auch ihre Flexibilität für sie: Hendrich kann sowohl zentral in der Innenverteidigung als auch auf der Außenbahn agieren. Gerade dort herrscht nach dem Ausfall von Giulia Gwinn und der Sperre von Carlotta Wamser, die ihren Job als Gwinn-Ersatz bis dahin gut machte, akuter Notstand.
Nach der mehr oder minder erfolgreichen Umstellung auf Dreierkette in der zweiten Halbzeit gegen Schweden, die auch nicht mehr ernsthaft attackierten, wurden auch die Stimmen nach einem permanenten Systemwechsel laut. Hier würde, auch dank des überzeugenden Auftritts im vergangenen Spiel, wohl kaum ein Weg an der 33-Jährigen vorbeiführen.
Junges Potenzial oder erfahrene Konstante?
Konkurrenz könnte Hendrich allerdings noch von ihrer Wolfsburg-Erbin Sophia Kleinherne bekommen. Die 25-Jährige kann, ähnlich wie Hendrich, sowohl im Zentrum als auch auf der Außenbahn eingesetzt werden. Der Unterschied: Kleinherne ist ebenso wie das bislang eingesetzte Personal noch recht jung. Springt Bundestrainer Wück nun über seinen Schatten und entscheidet sich für Erfahrung, würde alles für Hendrich sprechen.
Dass dieser Sprung über den eigenen Schatten angesichts der dürftigen Abwehrleistungen im Turnierverlauf gegen die bärenstarken Französinnen nur folgerichtig wäre, betonte auch DFB-Legende Inka Grings. „Für mich persönlich würde es mehr Sinn ergeben, Kathy Hendrich gegen die starken Spielerinnen im Zentrum zu bringen, um gerade da ein bisschen Geschwindigkeit zu bekommen“, sagte die ehemalige Nationalspielerin bei t-online. Für sie bringe Hendrich mit ihrem Tempo genau das mit, was dem Team zuletzt gefehlt habe..
Hendrich: „Egal, welche Rolle ich haben werde“
Doch was bedeutet das für die übrigen Positionen? Nach dem Systemwechsel in der zweiten Halbzeit gegen Schweden teilte sich Hendrich das defensive Zentrum mit der auf der linken Abwehrseite regelmäßig überforderten Sarai Linder und Ersatzkapitänin Janina Minge. In Abwesenheit der gesperrten Wamser und angesichts der starken Flügelspielerinnen Frankreichs ist durchaus wieder mit dieser Aufstellung zu rechnen.
In der Außenverteidigung könnten dann Jule Brand und Klara Bühl als Schienenspielerinnen eingesetzt werden. Beide Offensivspielerinnen, die so wichtig für das deutsche Spiel sind, haben mitunter auch die besten Defensivwerte der Wück-Elf, eine Tatsache die Bände spricht und noch einmal die Größe der Baustelle offenlegt. Ein Einsatz der jungen Franziska Kett, die bislang noch keine Turnierminute absolviert hat, ist dagegen eher unwahrscheinlich.
Ebenfalls möglich: Hendrich rückt auf die Außen. Knaak, die zuletzt nicht zu überzeugen wusste, bliebe in diesem Szenario im Zentrum. Hendrich selbst hätte damit wohl kein Problem: „Egal, welche Rolle ich haben werde, ich werde sie zu 100 Prozent ausfüllen“, sagte sie vor dem Turnier.
Ein Satz, der angesichts der aktuellen brenzligen Lage im deutschen Abwehrverbund mehr Gewicht denn je bekommt.