Thomas Müller wird dem FC Bayern München fehlen – aber die neue Generation steht auch dank ihm bereit

Der Samstagabend stand in der Allianz Arena ganz im Zeichen von Thomas Müller. Jeder Ballkontakt, jede Aussage, jeder Schritt – der Fokus lag auf einer Legende, die den FC Bayern München im Sommer verlassen wird, sogar verlassen muss.

Dass der 35-Jährige den Münchnern sehr fehlen wird, steht außer Frage. Der gesamte Abend zeigte jedoch die Ambivalenz, die zwingend notwendig ist, wenn man auf Müllers Abschied schaut. Für den FCB wird die Zukunft ohne ihn vor allem auf drei Ebenen besonders spannend.

Thomas Müller wird sportlich fehlen – ist gleichzeitig aber so austauschbar wie nie

Da wäre zunächst die sportliche Ebene. „Das eine ist der Sportvorstand, der sportliche Entscheidungen treffen muss“, sagte Max Eberl nach dem 1:0 gegen Gladbach bei Sky: „Und das andere ist der Mensch, der Fußballfan Max Eberl und der hat extrem gelitten.“

Eine Aussage, die das Kernproblem mit Müller perfekt umschreibt. Gleich mehrere Szenen gegen Gladbach waren bezeichnend für das, was der Angreifer immer noch wie kaum ein anderer Spieler auf der Welt kann. Wie er im zweiten Durchgang nach einem Chipball von Joshua Kimmich per Kopf auf Leon Goretzka ablegte, mag auf den ersten Blick nicht besonders wirken. Zumal Goretzka den Ball kläglich vergab.

Doch der Laufweg war schon typisch Müller: Statt ganz normal und zum Tor gewandt in den Strafraum zu laufen, bewegte er sich bereits leicht mit dem Rücken zum Tor in den freien Raum. Ein Abschluss war so unmöglich, wäre aus dieser Position aber auch unlogisch gewesen. Stattdessen hatte er so die perfekte Körperhaltung, um in den Rückraum abzulegen.

Müller denkt auch heute wie nur wenige Spieler voraus. Er kann eine Spielsituation lesen und sich selbst darauf vorbereiten, was passiert. Auch sein Abschluss aus zentraler Position nach Ballgewinn war ein guter Beleg dafür. Wie viele Spieler hätten den Ball in dieser Situation mit einem derart überraschenden Seitwärtsschritt erobert?

Auf der anderen Seite blieben diese Aktionen eher die Ausnahme. Müllers Einfluss auf ein Fußballspiel hat abgenommen. So wach und intelligent er immer noch agiert, so auffällig sind die Limitationen, die das Alter mit sich bringen. Auf der einen Seite wird der FC Bayern seine einzigartige Fähigkeit vermissen, Räume zu erkennen, bevor sie entstehen und diese für sein Team zu nutzen.

Auf der anderen Seite vermisst der FC Bayern diese Qualität schon jetzt, weil Müller das auf höchstem Niveau selbst nicht mehr liefern kann. Und genau an diesem Punkt der Analyse wird man in München die schwere Entscheidung getroffen haben, sich zu trennen.

Thomas Müller: Wichtiges Verbindungsstück zur Kurve

Thomas Müller: Wichtiges Verbindungsstück zur Kurve

Abseits der sportlichen Themen zeigte der Samstagabend aber auch, wie wichtig Thomas Müller für das Klima ist. In der Kabine, in der Außendarstellung und für die Verbindung zur Südkurve. Insofern war es ebenso bezeichnend, dass der zweimalige Champions-League-Sieger die Meisterschale in die Kurve brachte, dort einige Minuten verbrachte und eine Rede an die Fans hielt.

Müller war sowohl in den erfolgreichen als auch in den weniger erfolgreichen Zeiten immer da, hat stets den Austausch mit denen gesucht, die tausende Kilometer im Jahr für den FC Bayern durch Europa reisen. Erst nach dem Aus gegen Inter Mailand im Viertelfinale der Champions League hatte er betont, wie eng die Verbindung zur Südkurve geworden ist.

Das ist auf diesem Niveau durchaus besonders. Müller war es auch, der Mitspieler nach Niederlagen regelmäßig daran erinnerte, sich den Fans zu stellen. Er ist das Verbindungsstück zwischen der Kabine und der Kurve. Wer soll diese Rolle übernehmen? Eine logische Antwort darauf gibt es nicht.

FC Bayern: Generationenwechsel – vom Jodler zum Rapper

Schon eher lässt sich die Frage danach beantworten, wie es jetzt weitergehen soll. Denn auch auf einer dritten Ebene war der Abend von Müller bezeichnend: Als er mit dem Stadionmikrofon durch ein Spalier aus Mitspielern und Mitarbeitern lief, hielt er nur bei einem Spieler gesondert an, um ihn nochmal kurz in den Arm zu nehmen: Jamal Musiala.

In den vergangenen Jahren hat sich eine enge Beziehung zwischen Müller und seinem Nachfolger entwickelt. Wobei „Nachfolger“ es womöglich nicht ganz trifft. Musiala kommt aus einer anderen Generation, er ist ein anderer Spielertyp und auch ein anderer Typ Mensch. Er wird eigene Spuren hinterlassen. Großen Anteil an seiner bisherigen Entwicklung hat aber Müller, der ihn von Beginn an unter seine Fittiche nahm, ihm wichtige Tipps gab und ihn so quasi auf die nun anstehende Übergabe vorbereitete.

Auch in seiner Rede bekam Musiala nochmal einen Ehrenplatz, als er von einer neuen Generation sprach, die einem bereits vor der Saison erkläre, wer neuer NBA-Champion werde. Als Müller zur Nationalmannschaft zurückkehrte, sprach er von Jodlern und Rappern. Aber auch das ist seine große Qualität gewesen in den vergangenen Jahren: Zwischen den Generationen zu vermitteln, als „Jodler“ großes Interesse für das zu zeigen, was die „Rapper“ auszeichnet.

Die neue Generation wird Dinge anders angehen. Müller war vielleicht auch deshalb ein Unikat, weil er überall reingepasst hat. Man hätte sich den „Raumdeuter“ gut in der Mannschaft aus den goldenen Siebzigern vorstellen können, er hat aber auch sehr gut in die Moderne gepasst. Womöglich war er der erste, aber auch der letzte seiner Art. Das macht es unmöglich, ihn zu ersetzen. Gleichzeitig macht es die Zukunft umso spannender.

Sollte Florian Wirtz kommen, ist der FC Bayern sportlich auf Müllers Position für die kommenden Jahre gerüstet – mit zwei Spielern, die das Potenzial haben, zu absoluten Weltstars zu reifen. Dass Müller das gern noch etwas länger begleitet hätte, ist bekannt. Und doch scheint genau jetzt der ideale Zeitpunkt für diesen Generationenwechsel gekommen zu sein.

Müller tritt kurios ab

Müller tritt kurios ab

Müller geht mit dem Gefühl und der Gewissheit, dass er einen großen Teil dazu beitragen konnte, dass ein FC Bayern ohne ihn zumindest vage denkbar erscheint, indem er den jungen Spielern viel mit auf den Weg geben konnte. Jetzt müssen die „Rapper“ übernehmen und ihre eigene Geschichte schreiben.

Eine Sache dürfte ihnen dabei Hoffnung machen, dass ihnen das auch neben dem Platz gelingt. Kurz nachdem Müller eigentlich den perfekten Abschluss seiner Rede gefunden hatte, griff er nochmal zum Mikrofon. Dann erzählte er einen Witz von einem Vater, der im Sterben liegt und sich von seinen Kindern einen letzten Wunsch erfüllen lassen möchte: Ein Stück seines Lieblingskuchens aus der Küche, den die Mutter gerade zubereitet. Doch die Kinder kommen ohne Kuchen wieder. Die Begründung: Mama hat gesagt, er ist für nach der Beerdigung.

Ein kurioser Moment. Aber einer, der auch typisch für Müller ist. Immer noch einen drauflegen. Vielleicht wollte er mit diesem doch eher durchschnittlichen Witz dafür sorgen, dass die Messlatte für zukünftige „Entertainer“ beim FC Bayern etwas niedriger hängt.

Aber auch das trübt weder seinen insgesamt romantischen und emotionalen Abschied, noch sein Gesamtkunstwerk, das er hinterlassen wird. Legenden gibt es in der Geschichte des FC Bayern einige. Müller aber reiht sich ein in einen sehr kleinen Kreis an Spielern, die man in den Top-5 als gesetzt sehen würde.