DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig: „Das ist ein Armutszeugnis“

Deutschland bewegt sich zu wenig, sagen die Daten. Das besorgt auch DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig, der Selbstkritik übt – und einen Vorschlag macht. Seit mehr als 40 Jahren ist Andreas Rettig im Fußballgeschäft als Funktionär tätig. Ob in Leverkusen, Freiburg, Köln, Augsburg oder beim FC St. Pauli in Hamburg, der gebürtige Rheinländer hat einige Stationen mit den unterschiedlichsten Aufgaben absolviert. Kaum einer kennt den Fußball in Deutschland so gut wie er. Wohl auch deshalb wurde er im September 2023 Geschäftsführer des DFB . Rettig ist als kritischer Geist bekannt, der sich auch über den Tellerrand des Fußballs hinaus Gedanken macht. Unter anderem beschäftigt er sich mit dem allgemeinen Stellenwert von Sport in Deutschland. Im t-online-Interview kritisiert er Versäumnisse der vergangenen Jahre und stellt eine klare Forderung. t-online: Herr Rettig, die ehemalige Innenministerin Nancy Faeser sagte im Mai 2023, Deutschland sei eine „großartige Sportnation“. Hat sie recht? Andreas Rettig : Wenn damit die Begeisterung für Sport im Sinne von Einschaltquoten gemeint ist, dann hat sie recht. Deutschland ist eine großartige konsumierende Sportnation. Aber wenn es um das aktive Sporttreiben geht, um körperliche Ertüchtigung und Gesundheit, dann wird dafür aus meiner Sicht in unserer Gesellschaft und Politik zu wenig getan. Das beginnt schon beim Schulsport. Inwiefern? Ich bin Jahrgang 1963 – damals gab es vier Stunden Sportunterricht pro Woche. Heute sind es nur noch zwei, und selbst diese fallen häufig aus. Da steht dann zum Beispiel der Musiklehrer, schmeißt einen Ball in die Mitte und sagt: „Macht mal Sport!“ Ich verstehe nicht, warum die Politik das Thema in der jüngeren Vergangenheit nicht zur Chefsache erklärt hat. Da geht es mir als DFB-Geschäftsführer auch nicht allein um Fußball. Mir geht es um den Sport im Allgemeinen, denn der kann so viele unserer Probleme lösen. Wenn wir an Bewegungsmangel, Zuckerkrankheiten und Herz-Kreislauf-Probleme denken… Mehr als zwei Millionen Kinder in diesem Land sind übergewichtig. Das ist ein großes Problem. Eigentlich müssten die Krankenkassen eine Allianz des Sports bilden! Durch den Siegeszug von Smartphones und Co. haben viele Kinder auch das freie, kreative Spielen verlernt, berichten Nachwuchstrainer und Grundschullehrer. Erkennt man auch daran eine negative Entwicklung in den vergangenen Jahren? Hundertprozentig. Deshalb appelliere ich auch, dass wir häufiger die digitale und die echte Welt verbinden. Nehmen wir eine Fußballschule: Das Daddeln am Handy oder an der Konsole werden wir auch dort nicht verhindern können. Aber wir können Regeln wie diese schaffen: Wer eine Stunde zockt, soll sich danach auch wenigstens eine halbe Stunde bewegen. Wie können wir den Negativtrend denn langfristig ändern? Der Schlüssel liegt bei den Lehrern, bei den Trainern im Verein – aber auch bei den Eltern. Wir müssen versuchen, das Mindset zu verändern. Ein Beispiel: Ich habe von 2021 bis 2022 in leitender Position beim Drittligisten Viktoria Köln ausgeholfen. Dort habe ich hautnah erlebt, wie Eltern mit teuren Autos ihre Kinder noch bis zur Kabinentür fahren. Da habe ich die Eltern mal gefragt: „Wäre nicht etwas mehr Bewegung für den Jungen gut? Hätte er nicht auch mit dem Bus anreisen können?“ Die Antwort lautete dann: „Nein, der Junge soll sich ganz auf den Fußball konzentrieren.“ Wenn diese Einstellung schon im Nachwuchsbereich eines Drittligisten angekommen ist, strahlt dies auch in ganz andere Bereiche aus. Gerade Kindern und Jugendlichen wird in einigen Bereichen alles abgenommen. Hängt all das auch mit einer veränderten Kultur rund um Sport und Vereine hierzulande zusammen? Bundestrainer Julian Nagelsmann sprach zuletzt auf einer Pressekonferenz davon, dass Deutschland schon immer das „Land der Vereine“ war, er es heute aber anders wahrnehme. Wie sehen Sie das? Genauso wie Julian. Vereinsleben hat sich früher wo abgespielt? Im und rund um das Vereinsheim. Es war wie eine zweite Heimat, ein Ort der Begegnung. Die Rentner haben in der Ecke Skat gespielt, Eltern haben gewartet, bis die Kinder mit dem Training fertig waren. Du hattest ein anderes Wir-Gefühl. Das nehme ich so heute nicht mehr wahr. Wenn das Modell Vereinsheim als Begegnungsstätte wieder moderner wird, können wir dort etwas verändern und auch in anderen Bereichen etwas auslösen, um den Stellenwert von Sport und Bewegung zu verbessern. Warum ist denn aber das Vereinsleben Ihrer Meinung nach weniger attraktiv? Ich glaube, die heutige Schnelllebigkeit und der Druck, Geld verdienen zu müssen, führen dazu, dass viele sich nicht auf eine starre Vereinskultur, die ja auch gewisse Verpflichtungen mit sich bringt, festlegen wollen. Sie wollen Sport treiben, wann sie Bock und Zeit haben. Das kann heute um 17 Uhr sein und morgen um 20 Uhr. Man ist im Verein weniger flexibel, also entscheiden sich viele für die individuelle Variante. Meines Erachtens ist das ein Zeichen dafür, dass es uns früher leichter gefallen ist, diszipliniert zu sein, den inneren Schweinehund zu überwinden. Der gesagt hat: Bleib ruhig liegen, du musst den Extrameter nicht gehen. Bei dieser Entwicklung nehme ich den Fußball und mich selbst auch nicht aus der Verantwortung. Warum? Ich war von 2000 bis 2006 Vorsitzender der Kommission Leistungszentren, als wir die Vereine gezwungen haben, in den Nachwuchs zu investieren. In der Zeit sind auch die Nachwuchsleistungszentren entstanden. Welche Fehler haben Sie dabei gemacht? Es gab einen großen sichtbaren Erfolg. Wir haben viele Spieler ausgebildet, die 2014 den WM-Titel gewonnen haben. Aber wir haben diese Generation auch zur Unselbständigkeit erzogen. Wir dachten, Professionalismus bedeute, den Spielern alles aus dem Weg zu räumen. Überspitzt gesagt: Wir haben ihnen noch die Unterhosen gebügelt. Wir haben sie nicht aufs Leben vorbereitet, auf die raue Wirklichkeit. Da hätten wir früher gegenwirken müssen. Kommen wir zurück zum Thema Stellenwert des Sports. Mit einer eigenen Staatsministerin im Kanzleramt will Friedrich Merz laut eigener Aussage dem Sport eine höhere Bedeutung geben. Glauben Sie daran, dass auf die Worte auch Taten folgen? Der Typus Politiker ist in der Vergangenheit damit aufgefallen, die Fanschals der erfolgreichen Mannschaften zu tragen. Die Politik hat schon immer ein feines Gespür dafür gehabt, welcher Schal wann zu tragen ist. Was meine ich damit? Ich hoffe sehr, dass die Aussagen zu den Plänen von Friedrich Merz keine reine PR, sondern von Inhalten und Überzeugung geprägt sind. Sport verbindet viele Dinge miteinander, er fördert Werte, die für uns als Gesellschaft zentral sind. Daher braucht er Eigenständigkeit und muss meiner Meinung nach zur Chefsache erklärt werden. Kompetenz und Kapital sollten unter dem Dach des Chefs vereint werden. Sonst wird es bei blumigen Sonntagsreden bleiben. Wir müssen runter vom Sofa. Welche Rolle können dabei Sportturniere spielen, die in Deutschland stattfinden? Wir haben bei der Heim-EM im vergangenen Jahr gesehen, was das Turnier in ganz Deutschland ausgelöst hat. Und wir sehen jetzt, wie begeistert die Leute auch für ein vergleichsweise kleines Turnier wie das Final Four in der Nations League sind, weil es in Stuttgart und München stattfindet. Was uns in Deutschland aktuell fehlt, ist, die weichen und emotionalen Faktoren nach solchen Turnieren auch zu nutzen. Die Euphorie, die Gefühle, die solch ein Ereignis auslöst, die müssen wir in den Alltag transportieren. Solch ein Großturnier darf nicht folgenlos bleiben. Aber mein Eindruck ist, dass es das oft bleibt. Das ist ein Armutszeugnis. Ein Ort, an dem eine solche Begeisterung auch in Veränderungen übertragbar wäre, ist die Schule. Angesichts des zunehmenden Bewegungsmangels und seiner gesundheitlichen Folgen bei Kindern wären solche Veränderungen wohl notwendig. Das Thema Schule ist auch für uns im DFB ein sehr wichtiges, das wir auf unterschiedlichen Ebenen mit mehreren Projekten angehen – beispielsweise mit einem Piloten in Kölner Schulen. Mit dem Konzept der offenen Ganztagsschule haben die Schulen gestiegenen Betreuungsbedarf, das Personal dafür fehlt aber vielerorts. Parallel gibt es zahlreiche qualifizierte Trainer, die nicht alle einen Job haben. Daher haben wir Benno Möhlmann, dem Präsidenten des BDFL (Bund Deutscher Fußball-Lehrer, Anm. d. Red.) vorgeschlagen, dass wir diese qualifizierten Trainer ohne Amt für zusätzlichen Sportunterricht in Grundschulen einsetzen. Die Initiative ist auch dank der Unterstützung des Fußballverbandes Mittelrhein super eingeschlagen. Allein bei diesem kleinen Projekt sind 700 Kinder beteiligt, die jetzt zwei Stunden Sport mehr pro Woche machen. In Frankreich wurde im Zuge der Olympischen Spiele in Paris eine Bewegungsstunde eingeführt. Ist das nicht auch eine Idee für Deutschland? Wenn ich etwas in unserem Lande zu sagen hätte, würde ich die tägliche Sportstunde einführen. Anhand dieses Beispiels sieht man, was für einen Ruck so ein Sportereignis auslösen kann und wie schnell es auf einmal mehr Sportunterricht geben kann. Mehr Bewegung für die Kinder, das wäre das größte Geschenk, das mir die Politik machen kann. Bei allem Föderalismus, das müssen eigentlich alle wollen.