Sport spielt in Deutschland eine große Rolle, zumindest medial. Doch darüber hinaus sinkt der Stellenwert, sagen Experten. Das bleibt nicht ohne Folgen. Sport ist Mord. Wer sich als Kind beim Spielen den Arm bricht oder im Sportunterricht umknickt, bekommt diesen Satz zu hören. Ernst gemeint ist er nicht. Das Gegenteil kommt der Realität ohnehin näher. Wer keinen Sport macht, sich unzureichend bewegt, erhöht das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs. Auch wenn das der breiten Masse eigentlich bekannt ist, ist der Stellenwert von Sport in der Gesellschaft in Deutschland „zu gering“, meint zumindest Julian Nagelsmann . Sowohl in Kindergärten und Schulen als auch in der normalen Gesellschaft sei das der Fall, sagte der Fußball-Bundestrainer auf einer Pressekonferenz im März. „Wir haben eine extreme demografische Entwicklung, und wenn dann auch noch jüngere Menschen in Deutschland nicht top gesund sind, dann wird das Gesundheitssystem noch mehr belastet und es wird immer schwieriger, das alles zu finanzieren“, führte er aus. Mit dieser Meinung steht Nagelsmann nicht allein da. Die Forderungen an die Politik werden lauter. Der große Aufschrei bleibt aus Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Deutschland macht zu wenig Sport. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag der AOK ist 54 Prozent der Bevölkerung bewusst, dass sie sich nicht genug bewegen. Die Angst vor Erkrankungen oder anderen Folgen ist sogar noch weiter verbreitet. Dazu wird Deutschland im Schnitt dicker. Laut dem neuesten Ernährungsbericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (kurz: DGE) sind Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) in allen Altersgruppen weitverbreitet. Unter Kindern und Erwachsenen bis Ende 40 steigen die Zahlen kontinuierlich an. 2019 waren 60,7 Prozent der Männer und 46,5 Prozent der Frauen übergewichtig. Seit der Corona-Krise haben sich die Zahlen aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in ersten Untersuchungen verschlechtert. DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig macht sich vor allem Sorgen um die Jüngeren. Im Gespräch mit t-online sagt der 62-Jährige: „Mehr als zwei Millionen Kinder in diesem Land sind übergewichtig. Das ist ein großes Problem. Eigentlich müssten die Krankenkassen eine Allianz des Sports bilden!“ Doch der ganz große Aufschrei bleibt bisher aus. Eine Trendwende ist anhand der Daten nicht in Sicht, denn ein wirklicher „Hype“ um Sport und Bewegung existiert hierzulande nicht. Es gibt zwar viele Initiativen und Angebote, das große Ganze aber geschieht noch nicht. DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig im Interview : „Das ist ein Armutszeugnis“ Die These der Experten: Nur wenn sich der Stellenwert des Sports in Deutschland nicht verändert, werden sich auch die besorgniserregenden Zahlen ins Bessere wenden. Denn wie so oft in der Gesellschaft braucht es einen grundsätzlichen Ruck, um eine Trendwende einzuleiten und Millionen Menschen zu begeistern. „Dann passiert zu wenig“ Den einen Hebel, um diese Trendwende einzuleiten, gibt es nicht. Das Problem ist vielschichtig. Davon ist Michaela Röhrbein, Vorständin Sportentwicklung beim Deutschen Olympischen Sportbund (kurz: DOSB), überzeugt. Sie sieht im Sport nicht nur eine sinnstiftende Tätigkeit und den „Gesundheitsanbieter Nummer eins“, sondern einen Vermittler von Werten und demokratischem Handeln, „wenn Kapitäne oder Vereinsvorsitzende gewählt werden“. Diese Erkenntnis würde sie sich auch von der Regierung wünschen. Im Gespräch mit t-online betont sie: „Die Politik ist schnell dabei, wenn man schöne Bilder machen kann und erwähnt all diese Punkte auch in Reden. Aber wenn es dann darum geht, konkret die Rahmenbedingungen zu verbessern und zu investieren, passiert zu wenig.“ Dabei schauen Röhrbein und der DOSB besorgt auf den Zustand vieler Sportstätten in Deutschland. Zwei Beispiele: Berechnungen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) zufolge, haben seit der Jahrtausendwende rund 1.500 Schwimmbäder in Deutschland schließen müssen. Nicht wenige Schulen suchen verzweifelt nach Möglichkeiten für Schwimmunterricht. Allein in Berlin sind laut Schätzungen der Bezirke rund 411 Millionen Euro nötig, um bis 2029 alle Sportanlagen in einen modernen Zustand zu versetzen. Unter anderem deshalb fordert der DOSB von der neuen Regierung eine jährliche „Sportmilliarde“. Ob es die geben wird, ist unklar. Neben den maroden Hallen und Plätzen ist auch die Bürokratie oft ein Hindernis, sagt Michaela Röhrbein. Denn die führt zu sinkenden Zahlen bei ehrenamtlichen Mitarbeitern in Sportvereinen, erklärt sie: „Die Menschen wollen etwas schaffen und Gesellschaft gestalten, haben als Vereinsvorsitzende dann aber – überspitzt formuliert – acht von zehn Stunden mit Zettelwirtschaft zu kämpfen, weil irgendwelche restriktiven Auflagen für Vereinsfeste zu erfüllen sind.“ Tim Frohwein weiß, wovon Michaela Röhrbein spricht. Der Fußballsoziologe ist selbst einer dieser Ehrenamtler, ist in München Fußballtrainer im Verein seines Sohnes. „Ich glaube, dass wir die Strukturen verbessern müssen. Es braucht hauptamtliche Mitarbeiter“, ist Frohwein im Gespräch mit t-online überzeugt. „Im Verein von meinem Sohn haben wir 600 Mitglieder, seit zwei Jahren gibt es einen Teilzeit-Geschäftsführer, der wahnsinnig viel wegschafft und Aufgaben übernimmt und damit das Ehrenamt entlastet. Er sorgt dafür, dass die Leute das machen können, worauf sie Bock haben und sich nicht mit Bürokratie auseinandersetzen müssen.“ In Großstädten wie Berlin oder München bräuchte es mehr Sozialarbeiter, die genau das tun, um dem Weggang der Ehrenamtler entgegenzuwirken. Stirbt das deutsche Vereinsleben? Das Fehlen von freiwilligen Helfern ist auch in der sinkenden Zahl der Vereine zu erkennen. Immer wieder kommt es zu Fusionen oder Spielgemeinschaften, weil sich die Vereine anders nicht am Leben halten können. Gerade auf dem Land wird der Zugang zu Sportmannschaften immer schwerer. Fußball-Bundestrainer Julian Nagelsmann stellt zudem eine veränderte Vereinskultur fest. Im März erzählte er auf der Pressekonferenz von seiner Jugend im Schützenverein, von Musikvereinen und Trachtenvereinen. „Heute gibt es eigentlich außer dem Fußballverein nicht mehr so viel, jeder ist ein bisschen mehr mit sich selbst beschäftigt“, fügte er an. Tim Frohwein widerspricht leicht. „Julian Nagelsmann hat in dieser Pressekonferenz viele richtige Dinge gesagt, aber das sehe ich anders. Zumindest haben wir noch Rekordwerte an eingetragenen Vereinen in Deutschland. Aber vielleicht hat er auch in die Zukunft geschaut, denn wir sind an dem Punkt, an dem wir jedes Jahr eine höhere Anzahl an Löschungen von Vereinen haben im Vergleich zu Neuanmeldungen“, erzählt er. Aktuell seien es rund 600.000 Vereine, bald aber nicht mehr. „Noch sind wir ein Land der Vereine und profitieren auch davon“, betont Frohwein. Das sei auch soziologisch nachweisbar. „Regionen mit vielen Vereinen sind wirtschaftlich stabiler und erfolgreicher. Dazu hast du den Effekt, dass sich die Leute dort eher politisch engagieren. Es gibt auch einen höheren Grad an sozialer Kontrolle, die Kriminalitätsstatistik sinkt entsprechend.“ Das Netzwerk, das sich jeder Einzelne in einem Verein aufbaut, funktioniere in vielerlei Hinsicht als eine Art Rettungsschirm, wenn der Job verloren oder das Auto kaputtgeht. Eine Veränderung in der Vereinskultur an sich nimmt auch Andreas Rettig wahr. Der DFB-Geschäftsführer beschreibt das Vereinsheim als eine „zweite Heimat“, als einen „Ort der Begegnung. Die Rentner haben Skat gespielt in der Ecke, Eltern haben gewartet, bis die Kinder mit dem Training fertig waren. Du hattest ein anderes Wir-Gefühl. Das nehme ich so heute nicht mehr wahr“, sagt er zu t-online. Experten kritisch : Ist Deutschland wirklich eine „großartige Sportnation“? Rettig glaubt: „Wenn das Modell Vereinsheim als Begegnungsstätte wieder moderner wird, können wir dort etwas verändern und auch in anderen Bereichen etwas auslösen, um den Stellenwert von Sport und Bewegung zu verbessern.“ „Die Kinder kommen auf keine Ideen“ Sport findet aber nicht nur in Vereinen statt. Viele vereinslose Erwachsene sind in Fitnessstudios angemeldet, gehen joggen oder machen Online-Kurse aus dem heimischen Wohnzimmer. Kinder hingegen sind abhängiger von einer Vereinszugehörigkeit. Denn in der Schule ist Bewegung zweitrangig. Die Lebensrealität in der Freizeit ist zudem eine andere. Auf dem Bolzplatz, der Straße oder im Wald nebenan zu spielen, ist oft weniger attraktiv als das Zocken am Smartphone. Tim Frohwein berichtet: „Wir merken vielen Schulkindern auch an, dass wenig sportliche Aktivität da ist. Bei denen sind bestimmte Bewegungsabläufe nicht vorhanden, weil sie zu viel sitzen, zu viel am Handy oder der Konsole spielen. Das ist ein Problem, weil wir im Kindesalter die Grundlage für unseren Körper schaffen.“ Laut dem Digitalverband Bitkom besitzen inzwischen rund zwei Drittel (65 Prozent) der 6- bis 18-jährigen Kinder und Jugendlichen hierzulande ein eigenes Smartphone. Leo-Jonathan Teßmann, Sportwissenschaftler und Nachwuchsfußballtrainer beim Zweitligisten Hertha BSC , sagt daher: „Lernen und Spielen findet heutzutage nur noch institutionell statt. Wenn man mit einer Gruppe von Kindern in einen großen Wald geht und sagt: Wir treffen uns in drei Stunden wieder, spielt einfach und habt Spaß, dann fragen die sich: Was sollen wir jetzt machen? Der Wald ist eigentlich ein Paradies für kindliches Spielen, sie kommen aber auf keine Ideen, wie sie diese Spielzeit füllen sollen.“ Das merken Teßmann und seine Kollegen auch bei ihrer Arbeit bei Hertha BSC. Sie arbeiten gelegentlich mit sogenannten „freien Spielzeiten“ vor dem Training. Eine Stunde vor dem offiziellen Trainingsbeginn werden der Fußballplatz und alle Materialien zur Verfügung gestellt. „Was wir uns natürlich damit erhoffen, ist, dass wir so ein bisschen Bolzplatzkultur wieder zurückbringen, dass die Kinder einfach die Spiele spielen, die wir früher gespielt haben. Dass sie kreativ werden, sich etwas einfallen lassen.“ Die Realität sieht aber anders aus. „Was passiert, ist aber meistens, dass sich einfach einer ins Tor stellt und die anderen aus zehn Metern raufschießen. Die Kinder sind in so einer Art Konsumhaltung. Sie kommen in den Verein und erwarten, dass sie jetzt bespaßt werden und gesagt bekommen, was sie zu tun haben. Sie sind gar nicht mehr in dem Erlebnismodus, wie wir das früher waren. Das ist auffällig.“ Das sei per se nicht schlimm, sagt Teßmann, würde aber einen Sinneswandel in der Gesellschaft erfordern: „Die Lösung ist, dass wir Sport als Bildungsthema sehen. Und da müssen Vereine und Schulen zusammenarbeiten.“ Als Positivbeispiel nennt er Alba Berlin. Der Basketballklub arbeitet in der Hauptstadt mit 76 Grund- und 18 Oberschulen zusammen, veranstaltet mehr als 200 AGs und bewegt so Zehntausende Kinder. „Das wünsche ich mir auch von großen Verbänden wie dem DFB oder dem DOSB, dass die mit der Regierung eine Lösung finden, um die Kinder da zu fördern, wo sie jeden Tag sind: in der Schule. Die lebenslange Begeisterung für Sport, die weckt man nicht im Alter von 18 oder 20 Jahren, sondern in der Regel viel früher“, sagt Teßmann. Mit dem Pilotprojekt „DFB macht Schule“ haben Andreas Rettig und der DFB bereits einen Versuch in Köln gestartet. „Die Initiative ist auch dank der Unterstützung des Fußballverbandes Mittelrhein super eingeschlagen. Allein bei diesem kleinen Projekt sind 700 Kinder beteiligt, die jetzt zwei Stunden Sport mehr pro Woche machen“, berichtet Rettig. Solche Projekte sind bisher die Ausnahme. Es braucht bundesweite Lösungen in den Schulen, ist Rettig überzeugt. „Wenn ich etwas in unserem Lande zu sagen hätte, würde ich die tägliche Sportstunde einführen“, erklärt der DFB-Geschäftsführer. „Mehr Bewegung für die Kinder, das wäre das größte Geschenk, das mir die Politik machen kann. Bei allem Föderalismus, das müssen eigentlich alle wollen.“ In Frankreich ist Rettigs Wunsch bereits die Realität. Dort hat die Regierung die Olympischen Spiele in Paris 2024 zum Anlass genommen, eine halbe Stunde tägliche Bewegung an Grundschulen einzuführen, damit sich die Kinder auch an den Tagen sportlich betätigen, an denen es keinen Sportunterricht gibt. In der Erklärung des Bildungsministeriums heißt es: „Mit der Einführung dieser Maßnahme soll ein gemeinsames Ziel verfolgt werden, das dem Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler, ihrer Gesundheit und ihrem Lernerfolg dient.“ Olympische Spiele – Chancen und Risiken Mehr Geld für Sportstätten, mehr Personal auf kommunaler Ebene, eine bessere Verzahnung von Verbänden, Vereinen und Schulen, mehr Bewegung in Schulen – die Liste an möglichen Lösungen für einen Sinneswandel in Deutschland ist lang. Doch neu sind die Vorschläge nicht. Passiert ist bisher dennoch wenig. Michaela Röhrbein ist überzeugt, dass es einen Ruck braucht. „Wir glauben zum Beispiel, dass in der Bewerbung um Olympische und Paralympische Spiele in Deutschland eine große Chance dafür liegt. Wir haben das in ganz Frankreich und Paris wunderbar gesehen, was die olympische Bewegung in einem Land auslösen und nachhaltig bewirken kann.“ Olympia in Deutschland als Lösung? Unter Umständen ja, meint Tim Frohwein: „Es gibt eine Wechselwirkung zwischen Spitze und Breite. Das haben wir auch nach der Fußball-EM im Sommer 2024 gesehen, es gibt einen Run auf Fußballvereine. Die Frage ist: Wie nachhaltig sind diese Effekte? Es braucht einen Kulturwandel, der anhält und nicht zwei Jahre nach dem Großevent wieder weg ist.“ Klar ist aber auch: Olympische Spiele sind teuer, die Austragung würde Deutschland mehrere Milliarden Euro kosten. Ein nicht nachhaltiges Turnier wäre eine vertane Chance. All das, die vielen Vorschläge und Ideen und der große Wunsch nach Olympischen Spielen mit nachhaltiger Wirkung liegen auf dem Tisch von Christiane Schenderlein. Sie ist die neue Staatsministerin Sport und Ehrenamt, die in der neuen Bundesregierung im Kanzleramt angesiedelt ist. Sport ist jetzt Chefsache, so das Signal der Entscheidung von Kanzler Friedrich Merz . Ob das aber am Ende der Realität entspricht, hängt auch von den Mitteln ab, die Schenderlein zur Verfügung gestellt bekommt. DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig wird das in den kommenden Monaten und Jahren genau verfolgen. „Kompetenz und Kapital sollten unter dem Dach des Chefs vereint werden. Sonst wird es bei blumigen Sonntagsreden bleiben“, sagt er. Ein Ziel hat Christiane Schenderlein schon formuliert: die Olympischen Spiele 2040 nach Deutschland zu holen. Die Ampelregierung hatte den Weg für die Kandidatur bereits frei gemacht, die neue Sportministerin soll ihn nun auch gehen. Bleibt nur die Frage, ob es am Ende nur bei Olympia bleibt, oder auch andere Themen angegangen werden. Der Druck steigt.