Dass Socrates Socrates hieß, könnte passender nicht sein – der Name eines griechischen Philosophen für einen der größten Fußball-Rebellen der Geschichte. Sokrates, der Grieche, erfand unter anderem die philosophische Methode des Dialogs. Socrates, der Brasilianer, prägte die Politisierung des Fußballs wie kein Zweiter und machte aus seinem Klub eine Demokratie. Dazu konnte der 1,92 Meter große Schlacks mit den kleinen Füßen (Schuhgröße 41) kicken, und wie!
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Als Mittelfeldregisseur steuerte Socrates in den 1980er-Jahren das Spiel der Corinthians aus Sao Paulo und der brasilianischen Nationalmannschaft. Er schoss viele Tore und passte schöne Pässe, am liebsten mit der Hacke. Pele soll mal gesagt haben, Socrates spiele rückwärts besser als die meisten Fußballer vorwärts. Nicht nur wegen seiner Körpergröße von 1,92 Metern überragte der Schlacks Kollegen und Gegner gleichermaßen.
Blaue Hose, gelbes Trikot, weißes Stirnband, ausgestreckte Jubelfaust, zottelige Haare und ein Bart, wie ihn der lateinamerikanische Revolutionär Che Guevara trug – so lernte die noch längst nicht globalisierte Fußball-Welt Socrates bei seinen beiden WM-Teilnahmen 1982 und 1986 kennen. Trotz magischem Fußball scheiterte Brasilien jeweils früh. Gemeinsam mit den Ungarn von 1954 und den Niederländern von 1974 gehört vor allem die Selecao des Jahres 1982 zu den schönsten Verlierer der WM-Geschichte.
Socrates und die Entstehung der Democracia Corinthiana
Eigentlich hätte Socrates schon an der WM 1978 teilnehmen können. 24 Jahre war er damals alt, aber leider verhindert, weil er zeitgleich sein Medizinstudium vorantrieb. Erst ein Jahr später debütierte Dr. Socrates für die Nationalmannschaft. Zu diesem Zeitpunkt war er schon bei Corinthians, bald einem der spannendsten Fußball-Projekte der Welt.
Nach sportlichen Misserfolgen unter einer autoritären Klubführung wurde Waldemar Pires Anfang 1982 zum neuen Präsidenten gewählt. Er machte den Soziologen Adilson Monteiro Alves zum Sportdirektor. Gemeinsam ließen sie ihren Spielern sämtlichen Gestaltungsfreiraum. Die Corinthians verfügten damals über etliche politisch engagierte Kicker. Wladimir, der nicht nur auf dem Platz links verteidigte. Walter Casagrande, dessen politische Aktivitäten ihn für kurze Zeit sogar ins Gefängnis brachten. Und vor allem Socrates, dessen Kopf außen und innen an Guevara erinnerte. „Ich wäre gern Kubaner“, sagte er mal.
Socrates und Genossen schufen bei den Corinthians basisdemokratische Strukturen. Spieler, Trainer und Funktionäre stimmten per Mehrheitsentscheid über alle großen und nicht ganz so großen Entscheidungen ab. Über Neuverpflichtungen, Entlassungen oder Aufstellungen. Aber auch über Trainingszeiten und den Speiseplan. Gelockert wurden gleichzeitig die Regeln der sogenannten Concentracao, wonach die Spieler vor Partien in einem Hotel eingeschlossen werden.
Democracia Corinthiana nannte sich das Konzept. Diese einzigartige Fußball-Demokratie beschäftigte sich aber nicht nur mit Interna, sondern auch mit der Lage der Nation. Auf ihren Trikots kritisieren die Corinthians die seit 1964 in Brasilien herrschende Militärdiktatur mit Slogans wie: „Direktwahlen jetzt“. Oder: „Ich will den Präsidenten wählen“. Socrates selbst trug gerne weiße Stirnbänder mit speziellen Botschaften. „Die Menschen brauchen Gerechtigkeit“, „Ja zur Liebe, Nein zum Terror“, „Keine Gewalt“.
Socrates bei den Corinthians? „Wir brauchten ein Genie wie ihn“
All das politische Engagement, all die Mühlen der Demokratie schienen auch die sportlichen Leistungen zu beeinflussen – und zwar positiv. 1982 und 1983 gewannen die Corinthians die prestigeträchtige Staatsmeisterschaft von Sao Paulo. Am ersten nationalen Meistertitel der Klubgeschichte schrammten sie nur knapp vorbei. Socrates selbst wurde 1983 zu Südamerikas Fußballer des Jahres gewählt.
„Der Erfolg unserer Bewegung hatte viele Gründe, aber Socrates war einer der bedeutendsten“, sagte Mitstreiter Casagrande später dem Guardian. „Wir brauchten ein Genie wie ihn, jemanden, der politisch und klug ist und bewundert wird. Er war unser Schutzschild. Ohne ihn hätte es die Democracia Corinthiana nicht geben können.“ Sie blühte schnell auf, verblasste aber auch bald wieder.
Bei einer Kundgebung vor angeblich zwei Millionen Menschen in Sao Paulo erklärte Socrates 1984, er würde nur dann in Brasilien bleiben, sollte es zu einer Direktwahl des brasilianischen Präsidenten kommen. Eine entsprechende Verfassungsänderung scheiterte im Parlament – also dem brasilianischen, nicht dem corinthianischen. Daraufhin wechselte Socrates nach Italien zur Fiorentina. Als sich im darauffolgenden Jahr ein Ende der Diktatur anbahnte, kehrte er nach Brasilien zurück. Erst zu Flamengo aus Rio de Janeiro, dann zum FC Santos.
Socrates starb 2011 im Alter von 57 Jahren
Bei der WM 1986 hatte Socrates seinen letzten großen Auftritt auf internationaler Bühne. Brasilien scheiterte im Viertelfinale im Elfmeterschießen an Frankreich, Socrates vergab vom Punkt. 1989 beendete er seine aktive Karriere – und arbeitete anschließend als Kinderarzt. 2011 starb er im Alter von nur 57 Jahren. Gezeichnet auch durch übermäßigen Alkohol- und Nikotinkonsum.
Kurz nach seinem Tod erschien eine Dokumentation namens „Rebellen am Ball“, in dem es auch um Socrates und die Democracia Corinthiana ging. Moderiert wurde die großartige Doku passenderweise von Eric Cantona. Gewissermaßen Socrates‘ Bruder im Geiste, einem anderen großen Fußball-Rebellen.
„Brasilien hat einen seiner geschätztesten Söhne verloren“, sagte Brasiliens damalige Präsidentin Dilma Rousseff zum Abschied. „Auf dem Platz war er ein Genie. Außerhalb des Platzes war er politisch aktiv, besorgt um sein Volk und sein Land.“ Das ist aber nicht die ganze Wahrheit: Denn er war eben nicht nur außerhalb, sondern auch auf dem Platz politisch aktiv, besorgt um sein Volk und sein Land.