Nagelsmann fehlt Realismus: Stefan Effenberg über grundlegendes Problem

Wird Deutschland im Fußball immer weiter abgehängt? t-online-Kolumnist Stefan Effenberg macht eine wichtige Unterscheidung – und kritisiert eine Entwicklung. Der Gewinner des Ballon d’Or 2025 heißt Ousmane Dembélé . Und das absolut zu Recht. Mit Paris Saint-German hat er in der vergangenen Saison die Champions League und das Double in Frankreich gewonnen, trug mit 35 Toren und 16 Vorlagen in 53 Saisonspielen maßgeblich dazu bei. Erstmals ausgezeichnet: Tränen auf der Bühne: PSG-Star gewinnt Ballon d’Or „Größter moralischer Schaden“: Vater von Lamine Yamal regt sich über Ballon-d’Or-Vergabe auf Dass aus dem Lager vom Zweitplatzierten Lamine Yamal nun sogar von „Betrug“ bei der Wahl geraunt wird, ist unwürdig. Was soll das? Yamal sollte dieses Wahlergebnis lieber zum Anlass nehmen, weiter hart an sich zu arbeiten, um sich diese hohe persönliche Auszeichnung letztlich auch wirklich zu verdienen. Das Potenzial dazu hat er unbestritten – und in seinem jungen Alter noch 15 Jahre Zeit, zahlreiche Trophäen abzuräumen. Aus deutscher Sicht hingegen gab es bei der Abstimmung nichts zu holen. Platz 29 von 30 Nominierten – das Ergebnis der Ballon-d’Or-Wahl vom Montag spiegelt die aktuellen Verhältnisse im deutschen Fußball wider. Denn als bester – und einziger – DFB-Vertreter landete Florian Wirtz auf dem vorletzten Rang. Vor zehn Jahren noch hatten wir zwei Spieler unter den Top Ten, seitdem ging es stetig abwärts. Ballon d’Or: Deutsche verpassen die Top Ten – Kane bester Bundesligaspieler Ist das nun aber ein weiteres Zeichen dafür, dass es auch mit dem deutschen Fußball insgesamt bergab geht? Nein, denn hier muss ganz klar unterschieden werden zwischen Vereinsfußball und Nationalmannschaft. Das ist spektakulär Die Ergebnisse auf Klub-Ebene in den vergangenen Jahren? Erst vor fünf Jahren gewann der FC Bayern die Champions League, Eintracht Frankfurt 2022 die Europa League. Und im vorigen Jahr hatten wir mit Borussia Dortmund in der „Königsklasse“ und Bayer Leverkusen in der EL gleich zwei deutsche Finalisten. Das ist, gemessen an den finanziellen Möglichkeiten der Bundesliga , besonders im Vergleich zur Premier League , spektakulär. Auch in den kommenden Jahren werden sich die deutschen Klubs auf europäischer Ebene nicht verstecken müssen. Wir werden immer zwei, drei Mannschaften haben, die uns sehr, sehr gut vertreten – schon jetzt 2025/26. Die Bayern und der BVB in der Champions League, dazu Stuttgart und Freiburg in der Europa League, auch Mainz in der kleineren Conference League kann es ganz weit schaffen. Was dabei allerdings auch nicht vergessen werden darf: In der Startaufstellung der Leverkusener bei der Finalniederlage gegen Bergamo standen mit Jonathan Tah und Florian Wirtz nur zwei deutsche Nationalspieler, bei Frankfurt 2022 mit Kevin Trapp ein einziger, bei den Bayern 2020 mit Manuel Neuer, Joshua Kimmich , Leon Goretzka , Serge Gnabry und Thomas Müller immerhin noch fünf. Die Nachwuchsleistungszentren sind in der Pflicht Und da sind wir beim grundlegenden Problem des deutschen Fußballs – das die DFB-Elf betrifft: In der Breite reicht das aktuell einfach nicht aus. Ich befürchte sogar: Dieses Problem wird uns auch in den kommenden Jahren noch zu schaffen machen. In der aktuellen Fußball-Weltrangliste steht Deutschland nur noch auf Platz zwölf. Die Top fünf? Spanien, Frankreich, Argentinien, England, Portugal – Mannschaften, die zuletzt stets zu den Top-Favoriten bei den großen Turnieren zählten und auch weiter zählen werden. Denn diese Länder sind derart komfortabel und tief besetzt und derart stimmig komponiert, dass meist auch Ausfälle von Stammspielern gut kompensiert werden können. Zur Erinnerung: Im Halbfinale der Nations League gegen Deutschland konnte Portugal es sich leisten, einen Vitinha – immerhin Leistungsträger bei PSG – erst nach einer knappen Stunde einzuwechseln. Diesen Luxus haben wir momentan nun mal nicht. Im Gegenteil muss für die deutsche Mannschaft aktuell wirklich alles zusammenpassen, wenn es erfolgreiche Spiele geben soll, sowohl taktisch als auch personell. Da sind auch die Nachwuchsleistungszentren in Deutschland in der Pflicht – dort wird schließlich die Grundlage für die Zukunft gelegt. Gerade hier hakt es meiner Meinung nach. Was wird dort gemacht? Junge Talente bekommen dort viel zu wenig Raum zur Entfaltung. Stattdessen werden sie in starre Systeme gepresst, mit vorgezeichneten Pass- und Laufwegen und endlosen Anweisungen. Durch dieses endlose Mikromanagement verlieren sie dann komplett ihre Kreativität und Spontaneität. Die Folge: Wenn mal etwas nicht so läuft wie in der Theorie und im Training zigfach eingeübt, stehen viele vor unlösbaren Aufgaben. Ich möchte hiermit sagen: Lasst die Talente endlich auch Talente sein und selbst zu sich finden, ihre eigene Art, ihren eigenen Stil entwickeln. Fußball soll und muss auch Spaß machen, sowohl den Spielern als auch den Fans in der Folge – davon lebt der Sport. Basketballer als Vorbild Warum ist Deutschland denn 2023 Basketball-Weltmeister und nun 2025 Basketball-Europameister geworden? Weil das Gesamtpaket aus Talent, Spielverständnis, Spielfreude und Emotion gestimmt hat. Da wusste jeder, was seine Aufgabe ist, da spielte keiner für sich selbst, sondern für den gemeinsamen Erfolg. Das hat dann auch die Fans angesteckt, das ganze Land hat sich erfreut an dieser Mannschaft, die wirklich eine Mannschaft war. Und genau das fehlt uns im Fußball, seit Jahren schon. Wenn die deutschen Nationalspieler das nicht endlich verinnerlichen, wird das weiter nicht funktionieren. Denn diese lähmenden, einschränkenden taktischen Zwänge haben bis auf die DFB-Elf übergegriffen. Da fehlte die Lust am Spiel, da fehlte die Freiheit – und es endete in einer Niederlage gegen die Slowakei und einer zähen Vorstellung gegen Nordirland. Wissen Sie, welches Land Deutschland in der aktuellen Fußball-Weltrangliste überholt hat? Marokko, das nun auf Platz elf steht. Und das nicht ohne Grund. Können Sie sich an diese Mannschaft erinnern? Bei der WM 2022 hat sie begeistert mit aufopferndem, kämpferischem Fußball, mit dem starken Torwart Bono , mit dem früheren Dortmunder Achraf Hakimi . Im Turnierverlauf hat dieses Team, das vorher niemand ernst genommen hatte, viele Fans hinzugewonnen – und es durch überraschende Siege gegen Spanien (3:0 nach Elfmeterschießen) und Portugal (1:0) dann sensationell unter die letzten Vier geschafft. Da hat niemand vorher große Ziele oder Ambitionen formuliert, die Mannschaft konnte unbeschwert aufspielen, ohne den großen Erfolgsdruck. Das muss jetzt auch der Maßstab für uns sein. Zwar ehrt es Bundestrainer Julian Nagelsmann , dass er offensiv kommuniziert hat, bei der WM 2026 den Titel holen zu wollen. Denn natürlich ist klar: Eine deutsche Mannschaft fährt nicht zu einem großen Turnier, um Däumchen zu drehen. Ich halte auch nichts vom olympischen Motto „Dabeisein ist alles“ – für mich ein ganz furchtbarer Spruch, zumindest aus der Perspektive einer Nation, die stets vorn dabei ist. Aber wenn man ehrlich ist, muss man sagen: Das ist keine wirklichkeitsnahe Einschätzung der eigenen Fähigkeiten. Da fehlt dem Bundestrainer der Realismus. Das wäre überhaupt nicht schlimm Nach dem Viertelfinal-Aus gegen Spanien bei der Heim-Europameisterschaft im vergangenen Jahr konzentrierte sich viel zu viel auf das nicht geahndete Handspiel von Spaniens Marc Cucurella, anstatt in der Tiefe die eigentlichen Gründe für das Ausscheiden zu analysieren. Vielleicht war genau das von Nagelsmann und dem DFB aber auch so gewollt, um abzulenken. Stattdessen gab es dann die nächste Ansage: Die Nations League sollte gewonnen werden. Und was passierte? Beim Final Four – erneut im eigenen Land – belegte die deutsche Elf von vier Mannschaften den letzten Platz. Da passen Vorstellung und Wirklichkeit einfach nicht zusammen. Was hat denn Uli Hoeneß jüngst über die Aussichten des FC Bayern in der Champions League gesagt? Man sei dort „wie Hoffenheim“ in der Bundesliga. Damit wollte er die Spieler anstacheln, vielleicht auch ein wenig provozieren, zu zeigen, wozu sie eigentlich fähig sind – und beim 3:1 zum Auftakt über den FC Chelsea hat das schon ansprechend funktioniert. Die Ziele also nicht ganz so forsch zu formulieren – das wäre überhaupt nicht schlimm für den Bundestrainer, im Gegenteil. Wenn die DFB-Elf dann ins Turnier in den USA, Kanada und Mexiko geht, sich als Team präsentiert und mit ansprechenden Leistungen vielleicht auch eine kleine Euphorie entfachen kann – dann erst können wir schauen, was möglich ist.