Diese Reifeprüfung hat selbst der FC Bayern noch nicht bestanden: Julian Brandt glänzt beim BVB in einer für ihn völlig überraschenden Rolle

Am Anfang dieser Geschichte war der Schock. Bei Borussia Dortmund war kurz vor Beginn dann doch genau das eingetreten, was eigentlich nie und nimmer passieren darf. Das, wovor man sich immer ein wenig gefürchtet hatte. 

Der Oberschenkel machte einfach nicht mit, er pochte schmerzhaft, ließ keine schnellen Sprints oder plötzlichen Richtungswechsel zu. Es ging einfach nicht, die Einblutung – der sogenannte Pferdekuss – war zu groß. Und weil dieser lädierte Oberschenkel nicht an irgendjemandem hing, sondern Teil des Ganzkörper-Torjägers Serhou Guirassy war, stand der BVB im Kollektiv urplötzlich vielleicht vor seiner bis dato größten Prüfung der bisherigen Saison.

 

BVB: Auf Guirassy-Schock folgt ein Happy End

BVB: Auf Guirassy-Schock folgt ein Happy End

Immerhin sah man bei Gastspielen in der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt zuletzt nie gut aus. Der BVB neigte bei Auswärtsspielen in Mainz gar dazu, gnadenlos auseinanderzufallen. Mit 1:3 und 0:3 wurde der schwarzgelbe Tross 2024 zurück ins Ruhrgebiet geschickt. Mainz als Marke Angstgegner. Als Meister-Miesmacher. Ein Gegner wie ein einziges Trauma. Und gegen den ging es nun auch noch ohne den zweifelsohne wichtigsten, weil besten und konstantesten Offensivspieler. Das konnte doch gar nicht gut gehen, oder? 

Aber wenn am Anfang dieser Geschichte der Schock war, so steht am Ende für den BVB tatsächlich ein waschechtes Happy End. Nicht, weil die Dortmunder in Mainz die Sterne vom Himmel spielten. Das taten sie mitnichten, denn lange Zeit im ersten Durchgang lief das Offensivspiel sehr unrund und Maximilian Beier wirkte in vorderster Front mit den vielen langen Bällen, die zwar ein Guirassy hätte verarbeiten können, aber so gar nicht ein Fall für den deutschen Nationalspieler sind, maßlos überfordert. Ein Dilemma mit Ansage, das Beier schon häufiger als alleinige Spitze widerfahren war. 

Und doch machte Kovac nach Spielende seiner Mannschaft bei DAZN „ein Kompliment“ für eine „sehr reife, sehr souveräne Leistung“. Warum auch nicht? Denn der BVB bestand seine Reifeprüfung, beim Auswärts-Angstgegner durchaus bravurös. 

Eine Prüfung, der sich der FC Bayern zumindest in der laufenden Saison noch nicht stellen musste, schließlich fällt beim Rekordmeister Harry Kane eigentlich nie aus. Doch als er mit einem Muskelfaserriss mal ein paar Spiele verpasste, verloren die Münchner in der vergangenen Spielzeit gleich – und das, na klar, in Mainz.

BVB: Adeyemi stark – Brandt als heimlicher Matchwinner

BVB: Adeyemi stark - Brandt als heimlicher Matchwinner

Dieses Schicksal aber teilte der BVB an diesem Samstag nicht. Bis auf einen Pfostenschuss von Paul Nebel ließ die einmal mehr sehr stabile Defensive um Abwehrchef Nico Schlotterbeck nahezu nichts zu. Seit mittlerweile 416 Minuten ist der BVB nun schon ohne Gegentor. 

Die Defensive ist nach der Umstellung auf die Dreierkette unter Kovac das Dortmunder Fundament, auf dem sich der ganze Klub mittlerweile beachtlich stabilisiert hat und konstant punktet. Ja sogar in den eigenen Augen wieder ein veritabler Meisterschaftsanwärter sein kann. „Wir wollen extrem lang oben dabei bleiben“, sagte Schlotterbeck bei Sky, „die Bayern legen jede Woche vor, aber wir wollen das Meisterschaftsrennen lange eng halten. Wenn wir so weitermachen, sieht es echt gut aus.“

Dass es gegen Mainz zumindest in zwei entscheidenden Momenten auch offensiv mal „echt gut“ aussah und der BVB am Ende nicht 0:0, sondern 2:0 spielte, lag einerseits am in den letzten Wochen bestechend gut aufspielenden Karim Adeyemi, der das 1:0 einleitete und das 2:0 selbst erzielte. Der heimliche Matchwinner war aber jemand, der eigentlich gar nicht auf dem Platz hätte stehen sollen.

„Das war natürlich überraschend“, sagte Julian Brandt, der sich durch seine plötzliche Startelfberufung nach dem Guirassy-Aus von Kovac „ein bisschen ins kalte Wasser geworfen“ fühlte, auch wenn er mit nun 29 Jahren „schon ein paar Erfahrungen in der Bundesliga sammeln durfte“. Es sei „schon sehr komisch“ gewesen. 

 

BVB-Matchwinner Julian Brandt: Drei kleine Geistesblitze reichen

Anmerken ließ er sich das komische Gefühl jedoch nicht. Im Gegenteil. Brandt gab dem BVB-Spiel genau das, wofür er einst geholt wurde. Und sogar noch mehr. Einerseits ackerte der so gerne als „flegmatisch“ in puncto Defensivarbeit verspottete Brandt gegen Mainz über 90 Minuten auch nach hinten. 23 Sprints zog er am Ende des Spiels, im Vergleich kommt ein Adeyemi im Schnitt pro Spiel auf knapp 19. Zudem spulte er 11,38 Kilometer ab, neben Svensson (11,5 Km) Top-Wert bei den Dortmundern.

Es waren andererseits aber offensiv diese zwei kleinen Momente, die Brandt nur benötigte, um das Spiel in der ersten Halbzeit auf die Seite der Dortmunder zu ziehen. Zwei so wunderbare und gefühlvolle Geistesblitze, die zu beiden Dortmunder Toren führten.

Doch das stimmt nicht ganz. Zumindest würde Niko Kovac an dieser Stelle wohl widersprechen. Denn eigentlich waren es drei Momente. Zwar überstrahlt Brandts genialer und völlig uneigennütziger Querpass auf Daniel Svensson die Entstehung des 1:0, aber für Kovac ebnete Brandt noch bevor er den Ball berührte den Weg zum wichtigen Führungstreffer.

Denn als Adeyemi in der Szene nach innen zog, bewegte sich Brandt clever nach außen, öffnete so das Zentrum für Beier und war somit tatsächlich sowas wie Wegbereiter und Vorlagengeber zugleich. „Genau diese Läufe wollen wir haben. Das ist Jule sehr gut gelungen. Das ist individuelle Qualität. Wir können das alles auf dem Reißbrett aufmalen und uns ausdenken, aber unterm Strich müssen die Spieler das leben“, sagte Kovac. 

Auf diese zwei kleinen, aber feinen Momente ließ Brandt nur kurze Zeit später noch einen dritten folgen. Als abermals Adeyemi bei einem Konter auf das Mainzer Tor zustürmte, spielte er Brandt den Ball eigentlich so schlecht in den Rücken, dass der kaum zu verarbeiten war. Mit seinem Touch nahm Brandt den Ball dennoch mit, legte wieder quer auf Adeyemi, 2:0. In puncto Doppel-Assists in einem Spiel muss sich Brandt (10) im historischen Bundesliga-Vergleich seit 2004/05 damit nur Thomas Müller (22) und Franck Ribery (15) geschlagen geben.

„Er ist so mannschaftsdienlich, ein Spieler der eine immense Erfahrung und Qualität hat. Diesen Pass [vor dem 1:0, Anm. d. Red.] spielen dir nicht viele. Seitdem ich da bin, habe ich nur das größte Lob für ihn“, schwärmte Kovac für einen, der in Dortmund in dieser Saison auch um seine Zukunft (Vertrag läuft 2026 aus) und generell sein Ansehen spielt. Nicht intern, aber extern. 

 

Brandt beim BVB am Scheideweg: Ein stiller Führungsspieler will er sein

Brandt beim BVB am Scheideweg: Ein stiller Führungsspieler will er sein

Vergangene Saison war Brandt an einem absoluten Tiefpunkt in nun schon sechs Jahren in Dortmund angelangt. Von den Fans als nächster Sündenbock nach Emre Can für die veritable Krise in der vergangenen Saison auserkoren, lief irgendwann tatsächlich gar nichts mehr zusammen. Auch deshalb kam Kovacs öffentliche Schwärmerei für Brandt, den er „irgendwo in der Range“ von Jamal Musiala und Florian Wirtz einordnete, womöglich nicht zum richtigen Zeitpunkt.

Erst im Saisonendspurt fing er sich wieder und war dann mit zwei Toren und vier Vorlagen in den letzten vier Spielen einer der Schlüsselspieler auf dem Weg in die nicht mehr für möglich gehaltene Champions League. 

Er sei „einfach nur froh, dass die Saison vorbei ist“, sagte er nach der kurzen Sommerpause vor der Klub-WM in einer Medienrunde und gestand sich selbst einen entscheidenden Fehler ein. Er habe seine neue Rolle als stellvertretender Kapitän gemessen an seinen Stärken völlig falsch interpretiert. 

„In Deutschland haben wir von einem Führungsspieler ein ganz klares Bild. Er muss wie eine Eins im Wind stehen, muss kratzen, beißen, laut sein, breite Schultern habe, muss auch mal einen umwichsen“. Brandt habe versucht, genau jenem Bild zu entsprechen. „Am Ende muss ich aber sagen, es hat mir mehr geschadet, als dass es mir gutgetan hat.“

Mittlerweile hat er seine Aufgabe als Führungsspieler neu interpretiert und sieht sich selbst als stilles Bindeglied innerhalb der Mannschaft. Und Kovac weiß das zu schätzen. Neben Emre Can und Schlotterbeck ist es besonders Brandt als dienstältester Profi, von dem der BVB-Trainer die Meinung zu gewissen Vorgängen hören will.

Auch deshalb scheint eine Vertragsverlängerung für Brandt nicht unbedingt unwahrscheinlich – vorausgesetzt die Leistungen auf dem Platz stimmen. Der 29-Jährige musste zuletzt aufgrund eines operativen Eingriffs am Kahnbein kürzer treten, stand deshalb auch gegen Wolfsburg am vergangenen Wochenende und auch gegen Juventus nicht in der Startelf.

Das dürfte sich gegen Athletic Bilbao am Mittwoch in der Champions League ändern. Und das sollte Brandt dann auch wirklich nicht mehr überraschen. Hat der doch gezeigt, dass er im „kalten Wasser“ trotz seiner 29 Jahre doch noch schwimmen kann. Schock hin oder her.