Vor dem Nations-League-Duell fehlen den DFB-Frauen gleich mehrere Spielerinnen mit einem Kreuzbandriss. t-online hat mit einer Expertin darüber gesprochen. Es ist noch keine Woche vergangen, seit sich Lena Oberdorf in einem Zweikampf das Kreuzband gerissen hat. Erneut ist das rechte Knie betroffen – nur 15 Monate nach dem ersten Riss und nur 50 Tage nach ihrem Comeback auf dem Platz. Und die Zahlen werden noch erschreckender: 16 Spielerinnen der Frauen-Bundesliga fehlen derzeit aufgrund der gleichen schweren Knieverletzung, darunter auch Nationalstürmerin Giovanna Hoffmann sowie DFB-Torhüterin Sophia Winkler. Vor dem Nations-League-Duell zwischen Deutschland und Frankreich (ab 17.45 Uhr im Liveticker bei t-online) schlagen daher auch die Nationalspielerinnen Alarm. „Das macht gerade allen ein bisschen Angst, wenn man sein Handy öffnet und irgendwie jeden Tag eine neue Verletzung sieht“, sagte Teamkollegin Alara Şehitler, die gemeinsam mit Oberdorf beim FC Bayern spielt. Personalnot beim FC Bayern: Zurück aus der „Hölle“ – und direkt wieder hinein Anhaltende Verletzungsmisere: „Frauenfußball-Problem?“ Bundestrainer besorgt Sportwissenschaftlerin Christiane Wilke kann die Sorge verstehen, erinnert aber daran: „Auch wenn Angst grundsätzlich ein schlechter Begleiter im Leistungssport ist – der Sport bringt nun einmal ein gewisses Verletzungsrisiko mit sich“, sagte sie im Interview mit t-online. Ein Kreuzbandriss sei ein „schwerer Schock“. Umso wichtiger ist es laut Wilke, „nicht in Angst zu verfallen, sondern konstruktiv mit solchen Rückschlägen umzugehen“. Dass sich Hoffnungsträgerin Oberdorf damit in eine lange Liste einträgt, wirft wieder einmal die Frage auf: Warum passiert gerade diese Knieverletzung bei Spielerinnen öfter als bei ihren männlichen Kollegen? Und inwiefern kann man dagegen vorgehen? Bundestrainer Christian Wück mahnte vor dem Duell gegen Frankreich: „Wir müssen aufpassen, über die Gründe zu spekulieren.“ Bei Lena Oberdorf sei die Verletzung nach einem Zweikampf passiert, „der nichts mit irgendeiner Belastungssteuerung zu tun hat, sondern das war ein hart geführter Zweikampf“, führte Wück aus. „Wir leben in einem Kontaktsport, da kann so was leider nun mal passieren.“ Sportwissenschaftlerin Christiane Wilke ist eine Expertin auf dem Gebiet. Nach ihrer Einschätzung muss sich Lena Oberdorf jetzt vor allem Zeit nehmen. Warum sie nicht an ein vorzeitiges Karriereende der Bayern-Spielerin denkt, erklärte Wilke im Interview mit t-online. t-online: Lena Oberdorfs Comeback währte gerade einmal 50 Tage – dann riss erneut das Kreuzband im selben Knie. Wie bewerten Sie die Unglücksszene? Dr. Christiane Wilke: Ich habe mir die Szene mehrfach und in Zeitlupe angeschaut. Was passiert ist, war maximal unglücklich. Zunächst einmal: Etwa 80 Prozent aller Kreuzbandrisse sind sogenannte „Non-Contact“-Verletzungen, passieren also ohne direkten Gegnerkontakt. In Oberdorfs Fall war das anders – hier war eine Gegenspielerin beteiligt. Die Gegnerin trifft Lena Oberdorf bei einer normalen Spielsituation mit dem Bein seitlich am Oberschenkel, während diese gerade aufsetzt. Dieser Impuls bringt sie in eine sogenannte „X-Bein-Stellung“. Sie drückt Oberdorf in den Verletzungsmechanismus für eine Kreuzbandverletzung. Der Gegnerin ist kein Vorwurf zu machen. Es ist einfach ein extrem unglücklicher Moment. Es ist gewagt hypothetisch, aber: Hätte sie die erste Verletzung nicht gehabt, hätte ihr Körper womöglich stabiler reagiert, es wäre nicht so eine schlimme Verletzung daraus resultiert. Zwei Kreuzbandrisse in so kurzer Zeit. Was bedeutet das für Oberdorfs Karriere? Ich will ganz klar sagen: Ich sehe bei Oberdorf keinen Grund, von einem Karriereende zu sprechen. Ich würde sie vom Typ her so einschätzen, dass sie sich wieder zurückkämpfen wird. Sie soll sich alle Zeit der Welt lassen. Denn sonst läuft es darauf hinaus, dass doch keine optimale Rückkehr mehr möglich ist. Oberdorf hatte vor dem Rückschlag ein intensives Krafttraining absolviert. Warum kommt es trotzdem so schnell zu einem erneuten Riss? Offensichtlich hat sie dennoch nicht lang genug pausiert beziehungsweise war noch nicht optimal vorbereitet. Aber das ist eine der schwierigsten Fragen: Wann ist der richtige Zeitpunkt, um zurückzukehren? Es geht nicht nur um Muskelkraft, sondern auch um neuromuskuläre Steuerung: Funktioniert die Ansteuerung der Muskulatur durch das Nervensystem wieder vollständig? Ist die Bewegungskoordination stabil unter Belastung? Das ist schwer vorhersehbar. Was bedeutet ein erneuter Kreuzbandriss in diesem Alter psychisch? Ich möchte nicht mit ihr tauschen. Für jemanden, der so fußballorientiert lebt, ist das ein absoluter Tiefschlag. Der Körper reagiert auf so eine Verletzung schockartig – vegetativ. Viele Spielerinnen spüren in dem Moment sofort, dass es etwas Ernstes ist. Und wenn man dann gerade erst zurückgekehrt ist und es reißt wieder – das ist nicht nur körperlich hart, sondern auch mental extrem belastend. Was ist jetzt aus Ihrer Sicht wichtig? Ich hoffe, dass sie die erneute Verletzung mental verarbeitet und psychologisch aufgefangen wird. Aber ich traue ihr das auch zu. Man wird nicht ohne Grund Profi – das bringt eine gewisse mentale Widerstandsfähigkeit mit sich. Trotzdem: Anfang 20, zwei Kreuzbandrisse – das ist brutal. Ich glaube aber, sie wird sich zurückkämpfen. Entscheidend ist jetzt, dass sie sich wirklich die Zeit nimmt, die sie braucht. Bei Profispielerinnen erfolgt die Kreuzband-Operation oft nur wenige Tage nach der Verletzung. Im Amateurbereich dauert das manchmal Wochen. Warum? Medizinisch gibt es zwei sinnvolle Optionen: Entweder man operiert sehr früh – in den ersten 48 Stunden – oder man wartet bewusst einige Wochen ab, bis das Knie abgeschwollen ist und die Strukturen eine OP zulassen. Dazwischen, in den ersten Heilungsphasen, ist das Knie nicht in der optimalen Situation, um operiert zu werden. Im Profibereich entscheidet man sich oft für die frühe Variante, weil Zeit ein entscheidender Faktor ist – sowohl für den Heilungsverlauf als auch für die Rückkehr in den Wettkampf. Aber das bedeutet nicht automatisch, dass die frühe OP die „bessere“ ist. Bei Amateursportlerinnen kann eine verzögerte OP genauso sinnvoll sein, wenn man die Zwischenzeit gut nutzt. Warum kommt es bei Fußballerinnen häufiger zu Kreuzbandrissen als bei männlichen Spielern? Das liegt an mehreren Faktoren, vor allem an anatomischen und hormonellen Unterschieden. Aufgrund des breiteren Beckens verlaufen die Oberschenkelknochen schräger, was zu einer stärkeren X-Bein-Stellung führen kann. Das begünstigt den typischen Verletzungsmechanismus eines Kreuzbandrisses. Die Voraussetzung bei Frauen ist einfach ungünstiger. Zweitens ist die Rumpf-Becken-Stabilität bei Frauen oft geringer. Das kann ebenfalls zu instabilen Bewegungsmustern führen. Und drittens spielt auch das Bindegewebe eine Rolle: Bei Frauen ist es meist weniger fest als bei Männern, was bis ins Kreuzband hinein Auswirkungen hat. Erstes Halbfinale der Nations League : Hier sehen Sie die DFB-Frauen gegen Frankreich im Free-TV Nächster Ausfall bei DFB-Frauen: Bundestrainer nominiert nach Immer häufiger hört man auch vom Einfluss des Menstruationszyklus auf Verletzungen. Gibt es da schon klare Erkenntnisse? Ja und nein. Man weiß, dass der Zyklus eine Rolle spielt. Bestimmte hormonelle Phasen erhöhen das Verletzungsrisiko. Aber valide, flächendeckende Daten fehlen noch, weil die Erfassung extrem schwierig ist. Man müsste eigentlich dauerhaft den Hormonhaushalt überwachen, um valide Aussagen treffen zu können. Tagebuchmethoden oder Temperaturmessungen liefern zwar Hinweise, sind aber nicht objektiv genug. Und wir bewegen uns da auch in einem sensiblen, ethischen Bereich. In den vergangenen Jahren kam das Gefühl auf, Kreuzbandrisse im Frauenfußball häufen sich. Spiegelt das die Realität wider oder hat sich einfach die Wahrnehmung verändert? Letzteres. Die Verletzungen gab es früher auch schon, sie wurden nur lange nicht systematisch erfasst. Die VBG, also der gesetzliche Unfallversicherer für Profisportler, hat Frauen erst 2025 umfassend in ihren Sportreport aufgenommen. Dazu kommt: Der Frauenfußball hat sich rasant entwickelt. Das Spiel ist schneller, athletischer, intensiver geworden. Das bringt neue körperliche Anforderungen mit sich, auch an die Belastbarkeit. Womöglich trägt das zu einer höheren Verletzungsrate bei. Was läuft im Bereich Prävention noch nicht rund, speziell im Frauen- und Jugendbereich? Leider sehr viel. Gerade im Jugendfußball von Mädchen wird oft einfach nur gespielt – ohne gezielte Athletik- oder Präventionseinheiten. Dabei würde schon ein kurzer Block von 15 bis 20 Minuten pro Trainingseinheit enorm helfen. Ich würde mir wünschen, dass sich wirklich jeder Trainer auch im Amateurbereich bewusst Zeit dafür nimmt. Müsste man nicht auch grundsätzlich über die Rahmenbedingungen sprechen, etwa über Spielflächen und Spielzeiten? Unbedingt. Frauen spielen auf denselben Plätzen, mit denselben Regeln und derselben Spielzeit wie Männer, obwohl sie physiologisch ganz andere Voraussetzungen mitbringen. Das wird bisher kaum thematisiert, obwohl es durchaus Einfluss auf die Belastung und Verletzungsanfälligkeit haben kann.