Einstiges Top-Talent Deutschlands wird beim HSV zum „wohl bestbezahlten Viertliga-Spieler in ganz Europa“

Außer sich waren sie, die großen Legenden des Hamburger SV. Felix Magath nannte den Entschluss in der Sport Bild „fragwürdig“, Harry Bähre forderte „mehr Fingerspitzengefühl“ und Thomas Doll fand die Entscheidung „viel zu hart“. Was war passiert? Merlin Polzin, im November 2024 gerade neu im Traineramt des HSV, verkündete als eine seiner ersten Amtshandlungen, dass Moritz Heyer und Levin Öztunali „bis auf Weiteres“ aus dem Profikader gestrichen werden.

Heyers Degradierung, immerhin seit 2020 im Verein, schlug nur vereinzelte Wellen, doch das Schicksal von Öztunali brachte die selten ruhige Hamburger Medienlandschaft sowie etliche Ex-Spieler und -Trainer auf die Barrikaden. Warum das Schicksal des Mittelfeldmanns für Alarm sorgte? „Denn Levin Öztunali ist der Enkel von Uwe Seeler, der so viel für den HSV getan hat“, traf Magath selbst den Nagel auf den Kopf und offenbarte, worum es eigentlich ging.

Öztunalis Degradierung war eine „rein sportliche Entscheidung“

Öztunalis Degradierung war eine

Doch nach dem ersten Aufschrei wurde es still. Die Verantwortlichen des HSV machten schnell klar, dass es sich um eine „rein sportliche Entscheidung“ handeln würde. Sportchef Stefan Kuntz spielte das Thema herunter. Alles nichts Außergewöhnliches, eine Entscheidung, „die schon mehrere Trainerteams getroffen haben“. Und auch Heyer und Öztunali nahmen es zumindest öffentlich sportlich und spulten ihr Programm im Nachwuchs bei der U21 ab.

Das Programm beschränkte sich dabei jedoch einzig und allein auf Trainingseinheiten. Mit gutem Beispiel sollten die beiden als Vollprofis bei den Youngsters vorangehen, Tipps geben und Vorbilder sein. Einzig spielen sollten sie nicht. Der HSV wollte in der Regionalliga Nord verhindern, dass die gestandenen Profis den jungen Talenten Einsatzminuten wegnehmen und wichtige Erfahrungen klauen.

Im Juli 2023 kündigte er nach Rückkehr zu den Rothosen noch an: „Ich denke, dass ich mit 27 Jahren im besten Fußballeralter bin, um richtig Gas zu geben. Ich habe seit meinem Weggang vom HSV in den letzten zehn Jahren bei jeder Station etwas mitgenommen sowie meine Erfahrungen und Spiele gesammelt. Ich versuche, der Mannschaft mit dieser Erfahrung zu helfen.“

Öztunali wird zum emotionalen Sehnsuchtstransfer

Nun war seine Hilfe nicht mehr im Aufstiegskampf in Richtung Bundesliga gefragt, sondern im Training für den Abstiegskampf in der Regionalliga Nord. Doch inwieweit er in der ersten Mannschaft wirklich eine sportliche Hilfe hätte sein können, war schon manch einen Fan und Experten bei Bekanntgabe der Verpflichtung fraglich. 

Direktor Profifußball Claus Costa lobte den Neuzugang deutlich: „Levin ist ein sehr flexibel einsetzbarer Offensivspieler, der durch seine Athletik besticht.“ Der damalige HSV-Vorstand Jonas Boldt ließ jedoch schon durchklingen, worum es bei dem Transfer vielleicht eigentlich ging, als er seine Freude darüber betonte, „dass wir Levin jetzt nach Hause holen konnten.“ Von 2006 bis 2013 hatte Öztunali sämtliche Jugendteams des HSV durchlaufen. 

Dass er zudem der Enkel von Uwe Seeler ist, wie es bei nahezu jeder Ballberührung den TV-Kommentatoren leicht über die Lippen ging, überstrahlte jedoch etwas – nämlich dass die Karriere von Öztunali seit seinem Abgang aus der U19 des HSV nicht immer steil nach oben ging.

„Armselig“: Seeler über damaligen HSV-Abschied von Öztunali

Ausgerechnet Jonas Boldt, der die herzerwärmende Rückkehr zehn Jahre später ermöglichte, war er es, der noch zu Leverkusener Zeiten Öztunali 2013 in die U19 von Bayer lockte. Uwe Seeler sparte nicht an Kritik, dass der HSV ihn nicht von einem Verbleib überzeugen konnte: „Es ist armselig, was mit meinem Enkel passiert ist. Die ganze Sache hat nichts mit Geld zu tun. Ich kenne die Hintergründe. Beim HSV reagiert man oft zu spät.“

Seeler stellte damals klar, dass er „voll und ganz“ hinter Öztunalis Entscheidung steht. „Sie ist reiflich überlegt“, begründete die HSV-Legende. Und es schien zunächst die richtige Entscheidung. Öztunali kam am ersten Spieltag beim 3:1-Heimsieg gegen den SC Freiburg zu seinem Bundesligadebüt. Mit nur 17 Jahren und 146 Tagen wurde er der bis dahin jüngste Bayer-Profi, der im deutschen Oberhaus zum Einsatz kam. 

Der damalige Youngster war eine der heißesten Talent-Aktien Deutschlands. 2019 wurde er mit der U19 Europameister, er gewann im selben Jahr die Fritz-Walter-Medaille in Silber. Doch der Durchbruch bei den Profis ließ noch auf sich warten. Zur Rückrunde der Saison 2014/2015 folgte eine Leihe für mehr Spielpraxis. Es zog den hochveranlagten Öztunali zurück in den Norden, allerdings zum Hamburger Erzrivalen von der Weser: Bis Sommer 2016 ging es zu Werder Bremen.

Weder bei Werder, noch bei Mainz oder Union: Öztunali kann sich nicht final durchsetzen

Weder bei Werder, noch bei Mainz oder Union: Öztunali kann sich nicht final durchsetzen

46 Einsätze, zwei Tore und acht Vorlagen später musste er zu Leverkusen zurück. Doch bei Bayer sahen sie keine Zukunft in dem Mittelfeldakteur. Manager Boldt war zwar „mit der Entwicklung, die Levin bei Werder genommen hat, durchaus zufrieden“, doch es reichte schlichtweg nicht. Zum unumstrittenen Stammspieler wurde er auch in Bremen nicht, sodass nach der Vorbereitung 2016 der Wechsel nach Mainz folgte.

Bis 2021 lief er für die 05er auf, absolvierte in der Zeit 114 Einsätze und durfte mit der U21 2017 in der Zwischenzeit den Europameistertitel feiern. Mit 30 Einsätzen für die U21 liegt er in der ewigen Rangliste auf Platz zwei. Das einstige Top-Talent verkam zum ewigen Talent und auch dieser Status sollte vergehen.

Auf Mainz folgte Union Berlin und auf ein solides erstes Jahr, in dem es für vereinzelte Einsätze in der Startelf von Urs Fischer reichte und er regelmäßig als Joker zum Zuge kam, folgte eine Saison zum Vergessen: Acht Minuten stand er in der Bundesliga auf dem Platz, verteilt auf zwei Einwechslungen kurz vor Ende.

 

Öztunali wird zum „wohl bestbezahlten Viertliga-Spieler in Europa“

Öztunali wird zum

Und so verwunderte es kaum, dass Claus Costa beim HSV bei all dem Lob für die spielerischen Qualitäten seines neuen Schützlings bei der Vorstellung von Öztunali sagte: „Ziel ist es, dass er bei uns zu alter Stärke zurückfindet.“ Es sollte nicht klappen. Nicht unter Tim Walter, nicht unter Steffen Baumgart und erst recht nicht unter Merlin Polzin.

Der technisch begabte, aber torungefährliche Hamburger konnte die familiär bedingten Erwartungen, die trotz der geringen Spielpraxis entstanden, nicht erfüllen. Gerade einmal 652 Minuten sammelte er in seinem ersten Zweitligajahr, ausgestattet mit 190 Bundesligaspielen. Für einen Scorerpunkt reichte es nicht und so war es wenig überraschend, dass der einstige Sehnsuchtstransfer schnellstmöglich wieder gehen sollte.

In seinem zweiten Jahr, der Saison 2024/2025, durfte er zweimal zu Saisonbeginn eingewechselt werden, es folgten noch drei Kaderplätze ohne Einsatz, bevor Polzin die Reißleine zog und neben Moritz Heyer auch Öztunali verbannte. Doch während sich die Hamburger im Winter mit Heyer auf eine Vertragsauflösung einigen konnten und sich der Abwehrspieler erneut seinem ehemaligen Chefcoach und Förderer Daniel Thioune anschloss, blieb Öztunali.

„Der ein oder andere Spieler weiß auch schon, dass er im Winter gehen könnte“, deutete Kuntz vorher noch den baldigen Abschied an, zu dem es jedoch nicht kommen sollte. Auch im Sommer fand sich kein Abnehmer. Keine Spielpraxis, keine Chance, sich zu empfehlen. Ein medial gehandeltes Monatsgehalt von 48.000 Euro macht es schwer, einen passenden Abnehmer zu finden. Der NDR taufte ihn aufgrund des üppigen Salärs gar zum „wohl bestbezahlten Viertliga-Spieler in Europa.“

Für den Klassenerhalt in der Regionalliga: Öztunali wird begnadigt

Eine Situation, die an Öztunali genagt haben soll. Die Hamburger Morgenpost berichtete zwischenzeitlich, dass neben einem Verbleib oder einem Wechsel auch das Karriereende ein realistisches Gedankenspiel gewesen sein soll – noch vor dem 30. Geburtstag des Jugendnationalspielers. Nach dem Austausch mit Familie und Management kam es jedoch nicht dazu. 

Und während die Situation an allen beteiligte Parteien nagt, eine Einigung nicht in Sicht ist, kommt es beim diesjährigen Saisonauftakt in der Regionalliga Nord zur Überraschung: Beim Duell mit der Zweitvertretung von Hannover 96 wird Öztunali eingewechselt. Der erste Einsatz nach acht Monaten. Es folgen weitere Auftritte, an den ersten sechs Spieltagen darf er insgesamt für 64 Minuten ran.

Nach Ende des Transferfensters und einem weiteren Verbleib von Öztunali denkt der HSV endgültig um. Öztunali darf wieder regelmäßig spielen – wenn auch nur in der U21. Statt mit den Profis den Abstiegskampf in der Bundesliga anzunehmen, soll er den Nachwuchs zum Ligaverbleib schießen. Die Anzahl talentierter Nachwuchsspieler wird vereinsintern nicht allzu hoch eingeschätzt, der Klassenerhalt genießt höchste Priorität.

Nach fünf Niederlagen am Stück gelingt dann auch der Befreiungsschlag. Bei Altona 93 bereitet Öztunali tief in der Nachspielzeit die 2:0-Entscheidung von Youngster Moritz Reimers vor. Den 1:0-Führungstreffer hatte Immanuel Pherai erzielt, der ebenfalls eigentlich zu den Profis gehört, aber Spielpraxis sammeln soll. Auch Bundesliga-Verteidiger Noah Katterbach könnte bald mit ihnen gemeinsam auflaufen: Nach einem „Fehlverhalten“ wurde er für eine „Denkpause“ in die zweite Mannschaft strafversetzt.

Der Aufschrei der HSV-Legenden blieb jedoch aus. Es handelte sich eben nicht um den Enkel von Uwe Seeler, dessen Vertrag 2026 ausläuft. Bis dahin wird sich Öztunali weiterhin nicht mit dem FC Bayern München, sondern dem FSV Schöningen messen müssen, gegen den er zwar 90 Minuten spielen durfte, aber die 2:1-Niederlage am vergangenen Wochenende nicht verhindern konnte. Immerhin darf er wieder spielen, immerhin ist es ruhig. Es ist allen zu wünschen, dass der Abschied im Sommer nicht noch einmal „armselig“ wird.