Max Verstappen ist zurück im Titelkampf der Formel 1. Die Schlinge um den Hals der Favoriten von McLaren zieht sich immer enger zu. Es war mal wieder die niederländische Nationalhymne, die erklang. Als nach dem Großen Preis der USA am vergangenen Sonntag im texanischen Austin die drei bestplatzierten Fahrer zur Siegerehrung schritten, nahm Max Verstappen erneut den Platz auf dem obersten Treppchen ein und lauschte zu Ehren seines Sieges den Klängen von „Het Wilhelmus“. Zuletzt wieder ein gewohntes Bild. Nach einem schwachen Saisonstart gewann der WM-Titelverteidiger seit der Sommerpause der Formel 1 drei von fünf Grand Prix, beendete die anderen beiden auf Rang zwei und holte auch beim Sprint von Austin den Sieg. Dabei landete er in fünf von sechs Fällen vor den beiden McLaren-Piloten Oscar Piastri und Lando Norris . Durch seine starke Form greift der Red-Bull-Pilot nun wieder in einen Titelkampf ein, der eigentlich schon als Zweikampf zwischen Piastri und Norris ausgemacht war. McLaren steht dadurch vor einer sehr schweren Entscheidung. Der Rennstall sitzt in der Falle. Beeindruckende Aufholjagd Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Seit seinem Sieg in Italien im zweiten Rennen nach der Sommerpause holte Verstappen 101 Punkte. Der WM-Führende Piastri holte im selben Zeitraum nur 37 Punkte, Verfolger Norris immerhin 57 Punkte. Ganze 64 Zähler machte Verstappen also in vier Rennen und einem Sprint auf Piastri gut. Der Rückstand des Niederländers beträgt nur noch 40 Punkte – und es stehen noch fünf Rennen und zwei Sprints aus. Ganze 141 Punkte sind also noch zu vergeben. Die Situation lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Hält Verstappen seine Form, wird er wohl doch noch Weltmeister. Gerade die Konkurrenz bei McLaren bringt das in eine komplizierte Situation. Eben weil es lange danach aussah, als würden die McLaren-Piloten den Titel unter sich ausmachen, beharrten die Team-Verantwortlichen darauf, beiden eine faire Chance zu geben und sie frei gegeneinander fahren zu lassen. McLaren ging dabei sogar so weit, in Anlehnung an die Teamfarbe „Papaya Rules“ getaufte Richtlinien einzuführen, an die sich die Fahrer beim Kampf miteinander halten mussten. Kernaussage der Regeln: Den Fahrern ist es erlaubt, gegeneinander zu fahren, sie müssen aber sicherstellen, sich dabei nicht zu nahe zu kommen und einen Unfall zu riskieren. Um maximale Fairness zu garantieren, ging das Team sogar noch weiter. Zeitweise griff es aktiv in die Rennergebnisse der Piloten ein. So zum Beispiel beim Großen Preis von Italien. Auf dem Kurs in Monza lag Norris vor Piastri auf Platz zwei und hätte damit das Recht gehabt, zuerst zum Boxenstopp zu kommen. Da Piastri zu diesem Zeitpunkt jedoch Druck von dem hinter ihm liegenden Leclerc verspürte, holte sich das Team von Norris die Genehmigung, Piastri zuerst an die Box zu holen. Sie nahmen sich die Punkte weg Durch den dadurch erlangten Reifenvorteil, der ihn länger auf den neuen Rädern fahren ließ, machte Piastri jedoch Zeit auf Norris gut. Als das Team bei Norris‘ Boxenstopp dann auch noch einen Fehler machte und Norris weitere Zeit verlor, war Piastri auf einmal vorbei. Im Sinne der Fairness sah sich McLaren gezwungen, zu reagieren und wies Piastri an, Norris wieder vorbeizulassen, obwohl er für den schlechten Boxenstopp nichts konnte. Solange die Fahrer-WM ein Zweikampf zwischen Piastri und Norris war, löste das Vorgehen des Rennstalls in seinen Auswüchsen zwar zeitweise Verwunderung aus, schadete dem Team insgesamt aber nicht und stellte für die Fans maximale Spannung her. Jetzt, wo Verstappen wieder an die Tür klopft, wiegt aber ein anderer Aspekt schwerer: Piastri und Norris nahmen sich gegenseitig die Punkte weg. Die Schlinge um McLarens Hals zieht sich auch deshalb jetzt zu. Der prestigeträchtige Fahrertitel ist in ernsthafter Gefahr. Strategiewechsel bei McLaren Vor dem Großen Preis von Mexiko muss sich der Rennstall nun die Frage stellen, ob es angesichts der Gefahr durch Verstappen fortan nicht klüger wäre, das bisherige Fairnessgebot über Bord zu werfen und voll auf einen Fahrer im Kampf mit dem Niederländer zu setzen. Die Wahrscheinlichkeit, dass McLaren die „Papaya Rules“ plötzlich abschafft, ist gering. Denn der offene Zweikampf zwischen den beiden Piloten hat beim britischen Rennstall durchaus Tradition. Norbert Haug , der in seiner Funktion als Mercedes-Motorsportchef lange in verantwortlicher Position bei McLaren war, verteidigte diese Tradition bereits vor der Saison vehement: „Exakt so geht in meinen Augen Rennsport, von Stallordern habe ich noch nie etwas gehalten, selbst wenn deren Nichtanwendung uns Weltmeistertitel gekostet hat“, sagte er im Interview bei t-online. Tatsächlich hat McLarens stures Beharren auf Gleichberechtigung zwischen den Fahrern schon WM-Titel gekostet. Zuletzt etwa in der Saison 2007, als das Team den damaligen Titelverteidiger Fernando Alonso und Rookie Lewis Hamilton so lange gegeneinander fahren ließ, bis Kimi Räikkönen im Ferrari durch einen sensationellen Schlussspurt den Titel holte. Ein ähnliches Schicksal könnte dem Team nun wieder drohen. Doch selbst wenn McLaren Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben sollte und fortan einen Fahrer bevorzugen möchte, stehen sie vor einer pikanten Frage: welchen? Wer hat die besseren Chancen? Die rein mathematische Logik würde Oscar Piastri vorschreiben. Immerhin führt der Australier die Gesamtwertung an, hat 14 Punkte Vorsprung auf seinen Teamkollegen Lando Norris und damit auch den größeren Puffer auf Verstappen. Gegen Piastri spricht allerdings die Formkurve: Seit dem Rennen in Monza Anfang September schnitt der 24-Jährige stets schlechter ab als Norris. Dass Piastri überhaupt noch einen Vorsprung hat, verdankt er ausschließlich dem Umstand, dass Norris in Zandvoort ohne eigenes Verschulden durch einen Motorschaden ausfiel. Seitdem zeigte Norris teils deutlich bessere Leistungen und holte bereits 20 Punkte auf seinen Teamkollegen auf. Piastri macht Fehler Piastri, zu Beginn der Saison aufgrund seiner vermeintlichen Abgeklärtheit noch „Iceman“ getauft, zeigte Nerven – und machte überraschend viele Fehler. Beim Großen Preis von Aserbaidschan crashte er im Qualifying, vermasselte dann den Start ins Rennen, nur um nach wenigen Kurven erneut in der Streckenbegrenzung zu landen. Beim Sprint in Austin war Piastri ebenfalls an einem Unfall beteiligt, der zwar nicht allein, aber zumindest zum Teil sein Verschulden war. Zu allem Überfluss schaltete dieser auch noch seinen Teamkollegen Norris mit aus und Verstappen konnte auf beide Boden gutmachen. Als wäre das noch nicht Grund genug, um an Piastris WM-Chancen zu zweifeln, wären da auch noch die Ergebnisse aus dem vergangenen Jahr. Auf den verbliebenen fünf Kursen zeigte Piastri im Vorjahr mehr als durchwachsene Leistungen: Zweimal wurde er Achter (Mexiko und Brasilien), einmal Siebter (Las Vegas), einmal Zehnter (Abu Dhabi). Nur einmal reichte es mit Platz drei (Katar) für einen Podestplatz. Dabei landete er nur einmal vor seinem Teamkollegen Norris und nie vor Verstappen. Ähnliche Ergebnisse würden in dieser Saison für den WM-Titel nicht reichen. Voll auf Piastri zu setzen, wäre für McLaren also ebenso ein Risiko, wie auf Norris, der zwar formstärker ist, jedoch noch einen Rückstand aufzuholen hat und in dieser Saison auch nicht immer durch Nervenstärke auffiel. Die beiden aber weiter fahren zu lassen, könnte Verstappen zum lachenden Dritten werden lassen. Der Rennstall hat also ein Problem, das sich kaum lösen lässt.